Vor wenigen Tagen bekam ich ein Gedicht in Kopie zugesandt. Es wurde vor etwa 100 Jahren veröffentlicht im „Nebelspalter“, eine Schweizer Satire-zeitschrift, gegründet 1875 in Zürich und besteht bis heute als Monatsmagazin. Es betraf die Spanische Grippe und die Zeilen sind so aktuell, als wär`s gestern gedichtet worden. Vielleicht lesen es auch die „Quer-Denker?“
Die Grippe und die Menschen
Als Würger zieht im Land herum
Mit Trommel und mit Hippe (= Sichel/Sense)
Mit schauerlichem Bum, bum, bumm,
Tief schwarz verhüllt die Grippe.
Sie kehrt in jedem Hause ein
Und schneidet volle Garben –
Viel rosenrote Jungfräulein
Und kecke Burschen starben.
Es schrie das Volk in seiner Not
Laut auf zu den Behörden:
„Was wartet ihr? Schützt uns vorm Tod –
Was soll aus uns noch werden?
Ihr habt die Macht und auch die Pflicht –
Nun zeiget eure Grütze –
Wir raten euch: Jetzt drückt euch nicht,
Zu was seid ihr sonst nütze!
`s ist ein Skandal, wie man es treibt,
Wo bleiben die Verbote –
Man singt und tanzt, juheit und kneipt,
Gibt`s nicht genug schon Tote?“
Die Landesväter rieten her
Und hin in ihrem Hirne.
Wie dieser Not zu wehren wär`,
Mit sorgenvoller Stirne:
Und sieh`, die Mühe ward belohnt,
Ihr Denken ward gesegnet:
Bald hat es, schwer und ungewohnt,
Verbote nur geregnet.
Die Grippe duckt sich tief und scheu
Und wollte sacht verschwinden –
Da johlte schon das Volk aufs Neu`
Aus hunderttausend Münden:
„Regierung, he! Bist du verrückt –
Was soll dies alles heißen?
Was soll der Krimskrams, der uns drückt,
Ihr Weisesten der Weisen?
Sind wir denn bloß zum Steuern da,
Was nehmt ihr jede Freude?
Und just zu Fastnachtszeiten – ha!“
So gröhlt und tobt die Meute.
„Die Kirche mögt verbieten ihr,
Das Singen und das Beten –
Betreffs des andern lassen wir
Jedoch nicht nah uns treten!
Das war es nicht, was wir gewollt,
Gebt frei das Tanzen, Saufen,
Sonst kommt das Volk – hört, wie es grollt,
Stadtwärts in hellen Haufen!“
Die Grippe, die am letzten Loch
Schon pfiff, sie blinzelt leise
Und spricht: „Na endlich – also doch!“
Und lacht auf häm`sche Weise.
„Ja, ja – sie bleibt doch immer gleich
Die alte Menschensippe!“
Sie reckt empor sich hoch und bleich
Und schärft aufs Neu`die Hippe. A.Z.
Ponholz, 18.01.2021
Christine Obermeier
chobgen